Frauke Gerstenberg ist seit Beginn des Wintersemesters 2023/2024 Professorin für Raumstrategien im gleichnamigen Studiengang. Sie folgt damit auf Dagmar Schork, die bis Sommer 2023 als Professorin an der Muthesius Kunsthochschule tätig war. Frauke Gerstenbergs Arbeitsschwerpunkte sind experimentelle Entwicklungs- und Raumkonzepte, künstlerische Interventionen und räumliche Narrative – immer mit starkem Bezug zu der Frage, wie wir in Zukunft zusammen leben wollen. Sie ist Teil der seit 1999 bestehenden Gruppe Raumlabor Berlin, die an der Schnittstelle von Architektur, Stadtplanung, Kunst und Intervention arbeitet.
Frau Gerstenberg, Sie sind seit 2017 als Gastprofessorin an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel tätig gewesen – im Studiengang Raumstrategien. Wie verändern sich nun mit der Berufung zur Professorin für Raumstrategien Ihre Aufgaben?
„Jetzt unterrichte ich auch im Bachelorstudiengang, was für mich etwas Neues und eine ganz andere Arbeit ist. Gerade im Bachelor ist es wichtig zu schauen: Wie richten wir dieses Studium neu aus? Wie integrieren wir aktuelle Themen wie temporäre Architektur, Materialkreisläufe oder Strategien von Aneignung in den Studiengang und sich auf der anderen Seite zu fragen: Was sind die Grundlagen all dieser räumlichen Praxen? Das Feld der Raumstrategien ist auch deshalb immer schwieriger zu erklären als andere Fächer, weil er in sich schon interdisziplinär ist. Im Raum kommt alles zusammen und dadurch habe ich in der Regel eine interdisziplinäre Situation. Das Feld, in dem man arbeitet, ist breit angelegt. Das ist für manche Studierende zunächst eine Herausforderung. Und es ist auch gerade das Spannende daran.“
Was macht für Sie den Studiengang Raumstrategien an der Muthesius Kunsthochschule aus?
„Aus meiner Perspektive betrachtet – ich bin ja selber Architektin – finde ich reizvoll, dass Raumstrategien wesentlich breiter angelegt ist als Architektur, es bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Raum, Architektur, Gesellschaft und künstlerischer Praxis. Wir leben heute in einer sehr komplizierten Gemengelage und darauf kann es keine einfachen Antworten geben. Genau dort setzt der Studiengang Raumstrategien an, weil er dieses interdisziplinäre Denken und Arbeiten fördert.“
Wie digital ist der Studiengang Raumstrategien?
„Meine Kollegin Sandra Schranke baut einen Schwerpunkt mit VR/AR-Techniken im Master auf. Und ich denke, das wird auch zunehmend im Bachelor eine Rolle spielen. Gerade bei den Feldern der Ausstellung oder Ausstellungsgestaltung sind die digitalen Medien immer wichtiger. Ein anderes großes Thema ist das Verhältnis von digitalem Raum zu realen Raum und zu der Frage, wo zukünftig Öffentlichkeit stattfindet.“
Sie selbst haben Architektur studiert – was ist der größte Unterschied zwischen Ihrem Studium und dem, was Sie den Studierenden heute beibringen?
„In den 1990er Jahren, als ich studiert habe, war Architektur ganz klar aufs Bauen ausgerichtet. Das hat sich heute mit den Herausforderungen durch die Klimakatastrophe um 180 Grad gedreht, auch in den Architekturstudiengängen. Die Erkenntnisse, dass die Baubranche insgesamt für rund 40 Prozent der CO₂-Emissionen verantwortlich ist, machen ein Umdenken notwendig. Auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis werden viele Ansätze diskutiert. Angefangen von einem kompletten Baumoratorium, hin über klimaneutrale Baumaterialien und zirkulärem Bauen, zu Umnutzungs- und Umbaukonzepten.
Für die Raumstrategien ist das auch eine Chance: Natürlich müssen wir uns zum einen dieselben Fragen stellen, zum anderen stand aber auch schon zuvor ein prozessorientierter, konzeptioneller Umgang mit Raum im Vordergrund und der ist jetzt gefragt.
Wir stehen vor den großen Herausforderungen der Transformation: Digitalisierung, soziale Gerechtigkeit, Migration und CO₂-Neutralität in der Stadt. Und wenn wir über diese veränderte Lebenswelt, in der wir heute leben, nachdenken, merken wir schnell, dass Bauen gar nicht allein die Antwort sein kann. An diesem Punkt setzt für mich an, dass wir einen erweiterten Architekturbegriff brauchen und in der Raumstrategie steckt dieser für mich schon drin.“
Solche Aspekte des Zusammenlebens spielen auch bei Ihrer Arbeit im Kollektiv Raumlabor Berlin eine Rolle. An welcher Idee, welcher Vorstellung für die Zukunft wird dort gearbeitet?
„Beim Raumlabor muss man zunächst den Entstehungskontext verstehen. Es hat sich in der Nachwendezeit in Berlin formiert, als die großen Projekte wie der Potsdamer Platz in Berlin fertig gebaut waren und es auf der anderen Seite überall Brachen gab. Diese Orte waren oft aus dem Kontext gefallen, ohne klare Programme und dadurch mit viel Möglichkeitsraum. Es hat sich eine suchende, verhandelnde Praxis entwickelt, die sich stark mit den örtlichen Gegebenheiten auseinandersetzt und den Austausch mit lokalen Experten sucht. Ganz im Sinne von Henri Lefebvre begreifen wir Raum als Produkt sozialen Handelns.
Es hat sich inzwischen ein ganzes Arbeitsfeld entwickelt, das wir heute urbane Praxis nennen. Die urbane Praxis ist eine Verschiebung weg vom gebauten Objekt, hin zu einem Prozess, zu einem aktiven Handeln im Raum.“
Also geht es gar nicht um das Gebäude, sondern vielmehr um das gesellschaftliche Aufeinandertreffen. Wie bei der Floating University, die Aktionsraum ist und zugleich den Weg zu den Inhalten ebnet, die darin geschehen sollen. Hat Architektur diese Kraft?
„Ja, dadurch, dass man Begegnungsorte oder Aktionsknoten schafft, an denen verschiedene Akteure aufeinandertreffen können, bildet sich aus dem Ort heraus ein Thema oder Anliegen. Die Floating University hatte eine starke Genese. Der Ort selbst, ein Regenrückhaltebecken, war ein ungenutzter Freiraum in Berlin. Im ersten Sommer hat sich gezeigt, das ist ein total interessanter Freiraum, weil sich die natürliche Umgebung mit der menschengemachten stark überlagert hat. Es ist ein räumlicher Abdruck unseres Umgangs mit der Natur und anderen Spezies und legt die Widersprüche offen.
Die Fragestellungen – wie können wir Kohabitation leben – sind an der Floating University sichtbar geworden. Erst durch den Prozess und die Auseinandersetzung mit diesem Ort hat sich dieses Thema ausgebildet. Auch das Haus der Statistik ist so ein Beispiel in Berlin, an dem erst durch die Pioniernutzung Vor-Ort die Potenziale des Ortes zutage getreten sind. Daraus haben sich interdisziplinäre Nutzungscluster gebildet, wie „das Haus der Materialisierung“ oder der „Lebensmittelpunkt“, die an aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen arbeiten. Das Projekt leistet nicht nur einen Beitrag zur lebendigen, gemischten Innenstadt, sondern trägt zu wichtigen gesellschaftliche Themen, wie zur Erforschung neuer Bau-Material oder lokaler Lebensmittelproduktion, bei. Das wäre durch einen reinen Masterplan im Vorfeld nicht entwickelt worden. Die direkte Auseinandersetzung mit lokalen Gegebenheiten und das Weiterentwickeln über einen interdisziplinären Austausch haben einen großen Anteil an der Attraktivität des Quartiers heute.“
Bezogen auf Kiel: Was könnten hier ein Ort und ein aktuelles Anliegen sein, das die Raumstrategien angehen könnten – vielleicht der Nationalpark Ostsee?
„Bestimmt, das Thema ist sehr interessant. Und es ist eine von den Sachen, auf die ich wirklich Lust habe: die Studierenden und die Kunsthochschule in der Stadt mehr mit der Praxis zu verbinden, mehr Kooperationen zu schaffen. Wir hatten ein kleines erstes Projekt auf dem Mfg5-Gelände, da haben Studierende begonnen, sich auf dem Gelände umzuschauen. Das Ziel wäre, bei diesen Kooperationen städtische Prozesse resilienter zu gestalten und mehr mit lokalen Akteuren zu verbinden.“
Auf der einen Seite können Raumstrategien praktisch in die Stadt hineinwirken. Auf der anderen Seite ganze Lebenswelten inszenieren.
„Ja, es gibt sehr verschiedene Bereiche, das ist richtig. Das eine sind die Praxisprojekte, die wahrscheinlich viel einfacher zugänglich sind für Besucherinnen und Besucher. Das andere geht eher in Richtung spekulativer Zukunftsbilder oder Prozesse, wo man fragt: Wie könnte denn eine Zukunft aussehen? Die Erfahrung zeigt, dass schon das potenzielle Erleben oder Vorstellen der Möglichkeit, dass etwas anders sein könnte, den Horizont der Imagination im Kopf der Menschen verändert und damit bewegt sich etwas im Denken – darauf beruhen diese Strategien der Spekulation in den Raumstrategien! Dazu kann man eigentlich nur alle einladen, das zu tun.“
Was möchten Sie Ihren Studierenden mitgeben?
„Für mich ist es wichtig, dass man in der räumlichen Praxis den Mut findet, sich zu positionieren. Man sieht das in der Architektur und es gilt ebenso für die Raumstrategien: Es ist ein politischer Raum, in dem wir uns bewegen. Ob wir Aufträge annehmen oder Umsetzen oder selber ins Leben rufen, beeinflusst den öffentlichen Raum, unsere Ressourcen etc.. Zum anderen möchte ich den Studierenden mitgeben, Spaß zu haben, zu experimentieren, auszuprobieren und das geht natürlich hier an der Hochschule noch viel besser als nach dem Studium. Ich wünsche mir, dass sich alle davon etwas mitnehmen können.“
Mit Blick auf Ihre Professur im Studiengang Raumstrategien: Worauf freuen Sie sich besonders?
„Ich freue mich auf den Austausch mit den Studierenden. Außerdem habe ich nun einen anderen Handlungsspielraum, auch was Kooperationsprojekte anbelangt. Ich denke, Kiel ist eine gute Stadt dafür, es gibt die Ostsee, die Kiellinie, die Fragen der Innenstadt und der Nachverdichtung. Da gibt’s viele Anknüpfungspunkte, zu denen die Hochschule Beiträge liefern kann.
Sie selbst haben in Berlin und Barcelona studiert – welche Verbindungen oder Bezugspunkte haben Sie zur Muthesius Kunsthochschule geführt?
Durch die Zusammenarbeit erst mit Arnold Dreyblatt, der hier lange Professor für Medienkunst war, an dem Ausstellungsprojekt „Black Mountain College“ im Hamburger Bahnhof und später bei der einer Ausstellung für das Exzellenz-Cluster Bild-Wissen-Gestaltung mit meiner heutigen Kollegin Sandra Schramke, habe ich die Hochschule kennengelernt und bin dann auch als Gastprofessorin eingeladen worden. Und weil genau dieses gemischte Feld der Raumstrategien sehr gut zu der Praxis von Raumlabor passt, bin ich auch jetzt wieder hier.“
Zur Person
Frauke Gerstenberg, geboren in Berlin, studierte Architektur an der UDK Berlin und der ETSAB in Barcelona. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind experimentelle Entwicklungs- und Raumkonzepte, künstlerische Interventionen und räumliche Narrative. Sie ist Teil der seit 1999 bestehenden Gruppe Raumlabor Berlin, einem Kollektiv von Architekten, die den Geist der Ko-Kreation verkörpern und sich aktiv an Projekten beteiligen, die die Handlungsfähigkeit und das Vertrauen in städtische Räume fördern.
Als wissenschaftliche Mitarbeiterin unterrichtete Frauke Gerstenberg an der Technischen Universität München (2003-2009), war Gastdozentin am Hyperwerk Basel, Hochschule für Gestaltung, und ist seit 2017 Gastprofessorin im Studiengang Raumstrategien an der Muthesius Kunsthochschule gewesen.
Bei der Architektur-Biennale in Venedig hat Raumlabor 2021 den Goldenen Löwen für den besten Ausstellungsbeitrag erhalten und ist neben dem Global Award for Sustainable Architecture (2018) mit diversen internationalen und nationalen Preisen ausgezeichnet worden.
Weitere Infos über Raumlabor Berlin: https://raumlabor.net und https://www.instagram.com/raumlaborberlin/