Annika Larsson ist seit Beginn des Wintersemesters 2024/25 neue Professorin für Time-Based Media im Zentrum für Medien an der Muthesius Kunsthochschule. Sie übernimmt die Professur von Stephan Sachs, der seit Oktober 2005 Professor für Film/Time-Based Media war. Larsson, geboren 1972 in Stockholm, lebt und arbeitet in Berlin und hat am Royal College of Fine Arts in Stockholm studiert.Im Interview spricht sie über die Bedeutung der Videokunst und über ihre Pläne an der Muthesius Kunsthochschule.
Frau Larsson, seit Sie in Stockholm Kunst studiert haben, hat sich nicht nur die Filmwelt stark verändert, auch unsere Gesellschaft wird zunehmend digitaler, das Mediensystem umgekrempelt. Welche Herausforderung bringt das mit sich, um Studierenden das Medium Time-Based Media nahezubringen?
„Mein eigenes Interesse am Filmemachen kam durch die Videokunst. Damals, Mitte der 1990er Jahre, als ich Bildende Kunst studierte, waren digitale Videokameras gerade auf den Markt gekommen, und dadurch näherte sich die Videokunst einem filmischen Ausdruck. Viele Künstler*innen, darunter auch ich, begannen mit einer Art digitalem Filmemachen zu experimentieren und verwendeten dabei ganz andere Produktionsmethoden als die Filmindustrie, was auch zu neuen Erzähl- und Ausdrucksformen führte. Dies war auch eine Zeit, in der das Internet neu war und der Beginn der „neuen Medien“ und einer neuen Form der Bildverbreitung, die auch meine Praxis sehr geprägt hat. Ich denke, die heutigen Herausforderungen liegen darin, wie man sich den dominanten Formen von Kontrolle und Macht, die in unsere computergestützten und vernetzten Systeme eingebettet sind, widersetzen und sie herausfordern kann. Fragen rund um Machtverhältnisse, Produktionsmethoden und Zirkulation waren schon immer ein zentrales Thema in meiner Praxis und Lehre, und so freue ich mich darauf, an der Muthesius diese Fragen gemeinsam mit den Studierenden durch verschiedene zeitbasierte Medienformate weiter zu erforschen. Hier möchte ich gerne gemeinsam untersuchen, welche Art von bewegten Bildern, Realitäten und Beziehungen entstehen können, wenn wir bewegte Bilder anders produzieren und zirkulieren lassen oder wenn wir Technologien auf andere Weise als die vorgegebenen Standards nutzen. Ich möchte die Studierenden auch dazu ermutigen, hinter die sichtbaren Strukturen verschiedener Technologien zu schauen, um zu untersuchen, wie sie an unseren Realitäten und unserer Zukunft mitwirken.“
Wenn Sie über die verschiedenen Technologien sprechen – denken Sie eher zurück an analoge Filme oder an die Zukunft des Films mit Künstlicher Intelligenz und digitalen Time-Based Media?
„Beides. Es gibt zum Beispiel interessante Verbindungen zwischen den frühen Beziehungen zum analogen Film und den heutigen KI- und VR-basierten Technologien, insbesondere in Bezug auf ihre Beeinflussungsfähigkeit. In den frühen wissenschaftlichen Laboren wurde der Film nicht nur als Aufnahmemedium verstanden, sondern auch als Kraft, die sowohl unseren Verstand beeinflussen als auch unseren biologischen Rhythmus regulieren konnte. Bei den heutigen Technologien, wie KI und VR, stehen Begriffe wie „Agency“, Kontrolle und Kraft wieder im Mittelpunkt.“
Wie würden Sie Ihr Lehrgebiet Time-Based Media definieren?
„Sie umfasst ein weites Feld: von analogem Film, digitalem Video bis zu KI und VR und anderen computer-, sensor- und generativen Medientechnologien, von Experimental- und Dokumentarfilm bis zu Installation und interaktiven Medien. Es umfasst auch Performance, Sound und künstlerische Forschung. All diese Bereiche haben gemeinsam, dass sie prozessbasiert sind. Und das ist genau, was Time Based Media so spannend macht, nicht nur als bewegtes Medium, sondern auch in der Art und Weise, wie es immer wieder an neue Formate und Techniken herangeführt wird. Anstatt ältere Formate obsolet zu machen, versuche ich in meinen Seminaren, die Studierenden zu ermutigen, auch diese zu erforschen, ebenso die Verbindungen zwischen verschiedenen Formaten. Wie sind diese Formate miteinander verbunden? Was geht verloren, was wird gewonnen, was wird ausgeschlossen oder einbezogen? Und wie erleben wir die Welt durch jedes Format anders? Ein weiterer Punkt, den wir untersuchen, sind die Protokolle und Normen, die mit jedem Format verbunden sind. Besonders interessant, aber auch alarmierend ist, wie diese in unsere heutigen KI-Technologien unsichtbar eingebettet und automatisiert sind.“
Wie bewerten Sie die neue Rolle des Films: Wie wirkt sich unsere besondere Zeit, in der Filme und kurze Clips immer und überall verfügbar sind, auf Ihren Anspruch auf die künstlerische Qualität von Time-Based Media aus?
„Ich denke, wir müssen sowohl kreative Produktion als auch künstlerische und subversive Ausdrucksformen neu denken, da diese heute so tief mit dem kapitalistischen System verwoben sind und von ihm ausgebeutet werden. Anstatt das System nur zu füttern, müssen wir uns fragen, welche Rolle die Kunst spielen könnte. Und uns Fragen stellen wie: Welche Beziehungen mit den heutigen zeitbasierten Medientechnologien, mit einander und mit der Welt möchten wir haben? Wie bleiben wir im Kontakt – mit uns selbst, mit einander, mit der physischen Welt und mit unseren Vorstellungswelten?“
Inwieweit ist Ihnen der virtuelle Raum wichtig, wenn es um Videoproduktion geht?
„Der virtuelle Raum ist als imaginärer Raum und als Raum zur Erforschung anderer Welten, Beziehungen und Zukünfte sehr spannend. Der virtuelle Raum wurde schon immer in Film und Video erforscht, und die neuen Medientechnologien eröffnen weitere Möglichkeiten, z. B. durch multisensorische und interaktive Erlebnisse. Ich denke jedoch, dass es wichtig ist, den virtuellen Raum nicht als körperlose Erfahrung zu betrachten, sondern ihn als verkörperten Ort zu erkennen. Wenn wir unsere VR-Sets aufsetzen, vergessen wir vielleicht vorübergehend unseren physischen Körper, aber unser Körper ist nicht nur immer noch präsent, sondern spielt auch eine aktive Rolle in unserer Erfahrung des imaginär-virtuellen Raums. Das Virtuelle ist also ein Zwischenraum oder ein besonderer Ort, in dem wir uns gleichzeitig in mehr als einem Raum und Zeit befinden können.“
Welche Vision, welchen Wunsch haben Sie, die Professur für Time-Based Media auszugestalten?
„Ich freue mich wirklich sehr, hier an der Muthesius zu sein, und darauf, die Studierenden und alle neuen Kolleg*innen kennenzulernen, die meiner Meinung nach eine wichtige Rolle bei der künftigen Ausrichtung des Studiengangs Time-Based Media spielen werden. Ich freue mich auch besonders, dass Time-Based Media im interdisziplinären Zentrum für Medien zugeordnet ist. Ich glaube, dass dies nicht nur Studierende und Interessen aus verschiedenen Bereichen zusammenbringen wird, sondern auch eine großartige Möglichkeit bietet, ein einzigartiges Time-Based-Media-Programm zu entwickeln, das sich der künstlerischen Forschung, dem Experimentieren, dem Austausch und der Praxis im heutigen Bereich Time-Based Media widmet.“
Was möchten Sie den Studierenden gern mitgeben?
„Mein Ziel ist es, die Studierenden zu ermutigen, Kooperationen zu initiieren und sich zu trauen, mit Bereichen und Menschen in Kontakt zu treten, auf die sie neugierig sind. Ich möchte auch, dass sie erkennen, dass wir als Lehrkräfte gemeinsam mit ihnen lernen und nicht nur Wissen an sie weitergeben. Mein Wunsch ist, dass sie spielerisch Wege entdecken, um starke, offene und einzigartige Positionen zu entwickeln, die Zusammenarbeit und Veränderung auch ermöglichen. Ich möchte sie auch darin unterstützen und ermutigen, sich selbst zu organisieren und nachhaltige horizontale Netzwerke aufzubauen, die auch nach ihrem Abschluss weiter bestehen und wachsen können.“
Was ist Ihnen in Ihren eigenen künstlerischen Arbeiten wichtig? Darin setzen Sie sich unter anderem mit Montagen von Katastrophen. Zerstörung, Unruhe auseinander.
„Man könnte sagen, dass alle meine Filme und Installationen Performativität in verschiedenen Formen erforschen: die Performativität des bewegten Bildes und auch die Performativität unserer Identitäten und Normen in der Gesellschaft. In letzter Zeit habe ich mich auch auf die nicht-menschliche queere Performativität konzentriert, also auf die Kraft und das Potenzial der kleinen widerspenstigen Kräfte, die in jeder Materie existieren. Dabei habe ich mich auch kritisch mit dem menschlichen Wunsch auseinandergesetzt, diese widerspenstigen Kräfte zu kontrollieren und auszubeuten. Mein neuestes Werk STRANGE POWERS befasst sich direkt mit diesem Thema, aber auch mit der hochsensiblen Natur komplexer Systeme. Es befasst sich mit der Verflechtung von digitalen immateriellen Medien und der physischen Welt, einschließlich der Ressourcennutzung der Medien, von der Rohstoffgewinnung, der menschlichen Arbeit und dem Energieverbrauch bis hin zu Spuren in Form von Giftmüll und Klimaauswirkungen. Wenn wir erkennen, dass alles in der Welt miteinander verbunden ist und auch die „nicht lebenden“ Komponenten wie Ressourcen die Kraft haben zu handeln, könnte dies sowohl Hoffnung als auch Angst auslösen. Hoffnung, weil auch kleine unbedeutende Dinge die Kraft haben, Veränderungen zu bewirken, aber auch Angst, vor allem im Bezug zu der aktuellen Klimakrise. Meine Arbeit befasst sich mit beiden diesen Aspekten.”
Also sind es die Themen, die Sie inspirieren, und weniger die Gegenstände? Und warum gibt es in Ihren Filmen keine Sprache?
„Ich würde eher sagen, mein Interesse gilt Orten der Ambiguität, der Liminalität und der Veränderung. Ich konzentriere mich nicht auf Sprache, sondern auf Ton, Gesten, Bewegungen und Affekte. Das hängt mit meinem Interesse an Performativität zusammen und damit, wie wir durch die Wiederholung von Gesten und Bewegungen Normen und Bedeutungen schaffen. Ich greife in meiner Praxis oft auf Spiele zurück, da ich die temporären Zustände von Spielen für ein sehr interessantes Format zur Erforschung von Verhältnissen halte.“
Haben Sie eine Lieblingstechnologie?
„Jede Medientechnologie ist auf unterschiedliche Weise interessant, vor allem in ihrer Art und Weise, wie sie die Welt mitgestalten oder wie sie uns erlaubt, die Welt anders wahrzunehmen. Idealerweise würde jede neue Technologie neue mögliche Perspektiven und Realitäten hinzufügen, aber ich fürchte, es ist eher umgekehrt, dass mit jeder neuen Technologie ein neuer Standard gesetzt wird und die Möglichkeit, dass andere Realitäten auftauchen oder überleben, unterdrückt wird. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir immer wieder neue, vorherrschende Standards in Frage stellen, damit wir die Möglichkeit geben, dass mehrere Systeme, Lebensformen und Geschichten koexistieren zu können. Ich glaube, dass dies möglich ist, wenn wir gemeinsam die Technologie kritisch, ethisch und experimentell erforschen und nutzen. Eine Kunsthochschule, wie Muthesius, ist der perfekte Ort dafür.“
Zur Person
Annika Larsson, geboren 1972 in Stockholm, lebt und arbeitet in Berlin. Sie hat am Royal College of Fine Arts in Stockholm studiert. In ihren Arbeiten untersucht sie die verwobene Beziehung zwischen Macht, Wissen, Verkörperung, Affekt und Visualität in unserer digitalen und physischen Welt. Sie beschäftigt sich mit dem Potenzial von (menschlicher und nicht-menschlicher) queerer Performativität und interessiert sich für Gesten, Rituale und Handlungen sowie für Verhaltensmuster, die Machtstrukturen verdecken oder infrage stellen. Ihre Werke wurden in namhaften internationalen Institutionen gezeigt, unter anderem im Museum für Gegenwartskunst, Basel, in der Fundacion la Caixa, Barcelona, am ICA-Institute of Contemporary Art, London, im ZKM, Karlsruhe oder im Moderna Museet, Stockholm. Auch an der 49. Venedig Biennale, der 8. Istanbul Biennale und der 6. Shanghai Biennale hat sie teilgenommen.
Weitere Informationen über Annika Larsson: www.annikalarsson.com und www.nonknowledge.org